These der Stunde

Ein Standpunkt dazu

 

Zynismus ist Naivität mit umgekehrten Vorzeichen. Da aber Zyniker offensichtlich schon einmal mit der Realität kollidiert sind, haben sie gegenüber den Naiven einen Erfahrungsvorsprung, den sie zum Denken nutzen könnten. Das tun sie aber nicht. Stattdessen drehen sie ihre eigene Naivität einfach um. Zyniker sind keine Realisten, sondern enttäuschte Naive. Und sie stellen sich gewöhnlich nicht der Realität der Konsequenzen ihres Zynismus.
 
Auch sind die meisten Zyniker gar nicht so heftig von üblen Erfahrungen zermürbt, wie sie vorgeben, sondern pflegen ihre Haltung auf der Basis einer eher wohlbehüteten Herkunft. Es fällt schon auf, dass Menschen, die ganz besonders unter der Grausamkeit anderer Menschen gelitten haben, selten grundsätzlich zynisch sind. Um seelisch zu überleben, differenzieren sie oft sehr genau.

Ein paar zynische Sprüche können ziemlich befreiend sein, eine zynische Grundhaltung ist destruktiv und kann eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein, auf die ein abgeklärter Realismus folgen sollte. Und der traut den Menschen - und der Menschheit - nicht nur Schlechtes sondern auch Gutes zu. D.h. zu diesem Realismus gehört auch etwas von dem ganz und gar verhassten Idealismus.
 
Zynismus ist das Gebot der Stunde. Naive und Idealisten sind die „versifften“ Hassobjekte. Aber wenn die Zyniker zu Ende gewütet haben, müssen die Realisten aufräumen. 
 
Wenn reiner Zynismus zur Politik wird, entstehen Diktaturen.
 
Um wie viel besser ist da doch die Naivität.
 
Die heute so betonten negativen Nebenwirkungen naiven Helfens sind um Größenordnungen geringer als die Katastrophen durch zynisch unterlasse Hilfeleistung. 
 
Und ohne einen Funken Idealismus würde man niemals etwas starten, dessen Erfolgswahrscheinlichkeit unter 50% liegt. Aber genau das bringt uns weiter. Ein halber Realismus verwaltet nur, Idealismus schafft Neues.
 
Wenn man sich beim Erwachsenwerden nunmal eine blutige Nase geholt hat - vielleicht ist dann ja eine Art reifer Realismus möglich, der die Enttäuschungen reflektiert und nicht so dumm ist, sich in ihnen einzurichten. Sozusagen ein post-postnaiver Standpunkt. Kein kitschiger Hippietraum, aber auch nicht die Weltuntergangsszenarien der berüchtigten „alten weißen Männer“. Natürlich geht es irgendwann weiter, die Frage ist nur, wie viel vorher kaputtgeschlagen wird.
 
Ein bisschen Idealismus ist schlau und wichtig - erst verbunden mit moralischer Überheblichkeit wird er dumm und giftig.

Ein weiterer Standpunkt dazu

 

Vielleicht muss man zwischen unterschiedlichen Arten von Zynismus unterscheiden. Zwischen zynischen Bemerkungen in schwieriger oder verzweifelter Lage, die vor allem dazu dienen, sich nicht ganz so machtlos zu fühlen, dem Zynismus für den Hausgebrauch, mit dem sich manche schmücken, um im Freundeskreis oder im Internet Welterfahrung zu signalisieren, und schließlich dem Zynismus gekoppelt mit Macht. Denn professionelle Zyniker denken durchaus zu Ende und zwar konsequent zynisch. Sie können sich das leisten, weil die Konsequenzen ihres Handelns sie nicht betreffen, oder nicht mehr betreffen werden. Bei Mächtigen mit destruktiven Anwandlungen liegt bisweilen allerding auch der Verdacht nahe, dass sie nicht nur das Leid der anderen, sondern auch das eigene Ende billigend in Kauf nehmen, weil ihr Hass auf andere Menschen vielleicht in einem Hass auf sich selbst begründet liegt.

Die Zahl mächtiger Zyniker unter den Staatenlenkern scheint wieder zuzunehmen - oder sie verhalten und äußern sich einfach nur offener zynisch. Antidemokraten scheinen derzeit besonders leichtes Spiel zu haben. Unter anderem, weil wir uns in der unübersichtlichen und komplexen Welt manchmal nach klareren Verhältnissen sehnen, nach Ordnung und vielleicht auch mal nach jemanden, der uns sagt, wo es lang geht. Weil wir bei der großen Auswahl an Gruppen, denen wir uns zugehörig fühlen können, durch schärferes Abgrenzen Anderer Klarheit schaffen wollen. Und weil schon Ansätze moralischer Gedanken derzeit sehr gerne unter der Vorwurf der Heuchelei denunziert werden. Um den mächtigen Zynikern nicht auf den Leim zu gehen, müssen wir derzeit vielleicht auch mit unserem Alltagszynismus etwas vorsichtiger umgehen als sonst.

Von Natur aus sind wir sehr schlecht darin, sowohl räumlich als auch zeitlich weit über unseren Tellerrand hinaus zu blicken. Deshalb fällt es uns schwer, uns der Konsequenzen unseres Handelns bewusst zu werden, wenn sie z.B. einen anderen Kontinent betreffen, oder eine Zukunft, die wir nicht mehr erleben werden. Aber bei unserem Informationsstand ist das natürlich nicht mehr mit Naivität entschuldbar. Wenn wir - daran erinnert - nur kurz aufschrecken und dann wieder zum Tagesgeschäft übergehen, ist das auch eine Art Alltagszynismus, wir verdrängen es, bis zu Ende zu denken und in diesem Fall ist unser Zynismus auch gekoppelt mit Macht, mit der kleinen Macht des Privilegs von Zeit und Ort. 

Auf der anderen Seite hilft einem eine gewisse Naivität auch dabei, Dinge überhaupt erst anzufangen - die sich dann zwar häufig als schwieriger herausstellen, als gedacht, aber trotzdem zu einem Erfolg werden können - die man aber mit einer eher zynischen Grundhaltung gar nicht erst gestartet hätte. Vielleicht würde eine Welt ohne Naive sich tatsächlich so schlecht entwickeln, wie es die Zyniker erwarten.

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