Standpunkte

Ein möglicher Standpunkt dazu
 
Jeder Mensch ist einzigartig. Klar, das ist ein Sinnspruch für den Kindergarten. In der Realität angekommen, scheint man eher eine Mixtur aus den Identitäten der Gruppen zu sein, denen man angehört. Tatsächlich kann auch diese Mixtur schon ziemlich besonders sein, aber reicht das?
 
Ist es nicht tatsächlich doch so, dass wir auf Grund der Variabilität unserer Gene und der Vielfalt der möglichen Umwelteinflüsse während unserer Entwicklung schon rein statistisch einmalig sein müssen - und uns diese Einmaligkeit Angst macht - und wir uns mit der Selbstdefinition über Gruppenidentitäten schützen, wie Jugendliche mit Ihrer Clique?

Gibt es nicht genau deshalb ein so reichhaltiges Angebot an Schubladen, in die wir uns zurückziehen können? In den Feuilletons, in den gesellschaftlichen Diskussionen von links bis rechts, natürlich in der Werbung - für jeden Wunsch das Passende: nationale Identitäten, kulturelle Identitäten, Opfer- und Beschützer-identitäten und viele mehr. Aber je genauer man eine solche Identität beschreibt, desto dumpf klischeehafter wird sie. 
 
Wir haben Probleme mit dem Individualismus, den wir vor ein paar hundert Jahren für uns entdeckt haben, wir wollen in irgendetwas richtig aufgehen. Aber es hilft nichts, wir sind Individuen und das auch schon sehr viel länger als es den Begriff gibt. Ganz egal ob wir das nun mögen oder nicht.
 
Identitäten sind Narrative, Geschichten, Erzählungen, vielleicht schön, aber nicht real.
 
Wie sehen Sie das?

 

Ein zweiter Standpunkt dazu

Wenn das freie Individuum noch jung ist, weil erst mit der Aufklärung unser heutiges Konzept davon entstanden ist, waren doch der tatsächlichen individuellen Entfaltung durch ein Korsett aus Normen und Erwartungen noch lange sehr enge Grenzen gesetzt. Vielleicht hat die entscheidende Befreiung des Individuums in der breiten Bevölkerung der westlichen Welt im Wesentlichen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingesetzt, mit Prozessen wie der sexuellen Revolution, dem zunehmenden Rückzug der Kirche als wertebestimmende Instanz und der Globalisierung nicht nur der Warenströme sondern auch der kultureller Impulse.

Damit einher ging eine immer weiter sich auffaltende Vielzahl der Lebensentwürfe und persönlichen Weltanschauungen. Aber ist dann die wachsende Betonung der Identität nicht eine zwingende Folge der zunehmenden Individualisierung? Vielleicht sperren uns Identitäten weniger ein, als dass sie uns schützen. 

Wenn Identitäten auf Erzählungen beruhen, muss sich jede/r Einzelne in dem Maße, in dem die großen gemeinsamen Erzählungen oder Rahmen verloren gehen - oder wir uns davon befreien - eigene Erzählungen suchen. 

Dabei ist das Eine die Ich-Identität als persönliche Erzählung, die sich aus der eigenen Biologie und Biografie speist. Eine stabile Ich-Identität ist schlicht eine notwendige Voraussetzung für psychische Gesundheit, auch wenn sich unsere Selbstwahrnehmung im Laufe des Lebens ändert und unsere Erzählung über unsere Biografie nicht statisch ist. 

Aber wie ist es mit den Identitäten, die wir uns anhand von Gruppenzugehörigkeiten zuschreiben, oder uns zugeschrieben werden? Auch die sind in den meisten Fällen eher schützend als einsperrend. Schon allein, weil auch die plausible Erzählung über uns selbst als Ich-Identität nicht ohne Gruppenzugehörigkeiten funktioniert. Vielleicht schützt uns eine aktive und positive Auseinandersetzung mit unseren Gruppenidentitäten auch davor, von den falschen Gruppen vereinnahmt zu werden.

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