These der Stunde

Ein Standpunkt dazu

 

Es ist eine zentrale Funktion unseres Gehirns, alles zu kategorisieren und in Schubladen zu stecken, um sich einen schnellen Überblick zu verschaffen - und bei allem, was uns irgendwie fremd ist, besonders vorsichtig zu sein. Wir scannen alles Neue innerhalb von Sekunden - nicht nur andere Menschen.

Aber bei denen war es in der Jäger-und-Sammler-Zeit natürlich besonders relevant, eine Freund-Feind Unterscheidung zu machen, bevor sie zuschlagen konnten. Und auch aus dieser Zeit stammt natürlich die Kategorisierung anderer Menschen mit Hilfe aller Signale, nach denen man sie irgendwelchen Gruppen zuordnen kann. Man kategorisiert sich ja sogar selber nach seinen Gruppenzugehörigkeiten und verhält sich dann häufig so, wie es den Klischees über die eigenen Gruppen entspricht, was den Abbau von Vorurteilen nicht gerade leichter macht.

Das Problem ist aber nicht unsere kaum aufhebbare Neigung zu Vorurteilen, sondern nur, wie wir damit umgehen. Man geißelt sich selbst, wenn man solche Vorurteilsreflexe bei sich bemerkt und entlastet sich dann gerne, indem man anderen deren Vorurteile vorhält. Oder man sagt sich, „Mein Gefühl und mein Instinkt können mich nicht täuschen, meine Vorurteile sind Urteile“. Das tun vor allem die gerne, denen ihre Vorurteile vorgeworfen werden und sie tun es umso leidenschaftlicher, je moralischer sie angegriffen werden. Gerne auch dreht man, zur Entlastung des Gewissens ein negatives Vorurteil auch einfach in ein positives um.

Ein schlechtes Gewissen für eine natürliche Veranlagung lässt sich aber wunderbar von anderen ausnutzen - ein alter Trick, dessen sich Religionen und politischen Gruppierungen aller möglichen Schattierungen immer wieder gern bedienen.

In dem Moment, als wir uns über den Jäger-und-Sammler Status hinausentwickelt hatten und unsere Gruppenbezüge komplexer wurden als die auf ein einzelnes Rudel, haben wir dem Menschen zugestanden, ein Individuum zu sein und nicht nur Teil einer Gruppe.

Als moderner Mensch in einem höchst komplexen Geflecht von Beziehungen und als Teil vieler verschiedener Gruppen, ist der einzig vernünftige Weg, in jedem ein einzigartiges Individuum zu sehen – nicht weil das gut und edel wäre, sondern weil unsere unvergleichliche Kooperationsfähigkeit in komplexen Bezügen unsere evolutionäre Nische ist. Die einzigartige Fähigkeit des Menschen aus dem Berg von Vorurteilen - mit dem jeder Mensch einem anderen begegnet - ein Individuum herauszuschälen ist lebenswichtig für jede weitere Interaktion.

Tatsächlich haben die meisten Menschen ja ohnehin den natürlichen Impuls, sobald sie einen anderen Menschen persönlich kennenlernen, eher das viele Gemeinsame zu sehen als das wenige Trennende. Fest zu seinen Vorurteilen zu stehen, ist anerzogen.

Nicht nur der Instinkt der ersten Sekunde ist natürlich, sondern auch das Denken und das Fühlen danach. Niemand braucht sich seiner instinktiven Vorurteile zu schämen, sondern nur seines Beharrens darauf.

Ein weiterer Standpunkt dazu

 

Vorurteile sind menschlich. Um mit der immensen und vor allem stetig wachsenden Komplexität unserer Umwelt zurecht zu kommen, ist unser Gehirn – und somit unser menschliches Denken und Handeln – vorprogrammiert, auf Heuristiken zurückzugreifen.

Derartige Heuristiken, zu welchen ich Vorurteile als vereinfacht analytischen Vorgang zuzähle, ermöglichen es uns, auch mit begrenztem Wissen über ein System oder Prozess mit Hilfe mutmaßender Schlussfolgerungen Aussagen treffen zu können. Wie Charles Darwin in seiner Evolutionstheorie erläuterte, trifft es hier sicher auch zu, dass nur jene Menschen, welche Vorurteile als Grundfunktion ihres Gehirns besaßen, überlebten. Somit haben sich Vorurteile als Bestandteil des menschlichen Denkens über die menschliche Evolution hinweg behauptet und gefestigt.

Das bedeutet nicht, dass diese Vorurteile nicht zu überwinden sind. Vielmehr benötigt es kognitive Belastung, um sich der Vorurteile bewusst zu werden, diese als solche zu erkennen und zu reflektieren, um langfristig aktiv gegensteuern und diese überwinden zu können. Vielleicht kann man dadurch durchaus sagen, dass nur jener Mensch, welcher diese kognitive Belastung nicht auf sich nimmt, zu dumm ist, Vorurteile aktiv zu bekämpfen. Diesen Punkt kann man jedoch nur vertreten unter sonst gleichen Bedingungen. Denn wenn wir bereits kognitiv belastet sind, beispielsweise durch finanzielle Sorgen, Existenznöte, Krieg, etc., fällt es uns umso schwerer, weitere kognitive Belastungen auf uns zu nehmen. Somit neigen Menschen besonders in Krisenzeiten dazu, auf Vorurteile zurückzugreifen. Sind diese Menschen dann dumm? Wohl eher nicht, sondern vielmehr menschlich, zum kognitiven Selbstschutz verleitet. Deshalb bedarf es in solchen Zeiten Menschen, welche ihre Vorurteile mit starker Bereitschaft bereits überwinden konnten, um ihre Mitmenschen in diesen Zeiten zu leiten und aktiv zu unterstützen, den Vorurteilen nicht zu verfallen. Als solches ist nicht der einzelne Mensch dumm, der an Vorurteilen festhält, denn diese sind tatsächlich eine Grundfunktion unseres Hirns. Nur jene, welche andere mit unnötigen oder menschenverachtenden Vorurteilen – solchen, welche wir evolutionär gesehen nicht benötigen – infizieren, sind dumm. Somit sind jene, welche ihren Mitmenschen besonders in schweren Zeiten zu einem vorurteilsfreien Leben verhelfen, wahre Helden.

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