Standpunkte

Ein möglicher Standpunkt dazu
 
Emotional und instinktiv sind wir Tiere in einer Horde von etwa 100 Affen, in der jeder jeden kennt und dessen Stärke die Stärke der Gruppe ist. Da uns die Evolution aber ein riesiges Großhirn spendiert hat, sind wir kognitiv sehr viel mehr. Allerdings ist dabei das Gruppentier immer noch sehr viel leichter anzusprechen als der individuelle Mensch. Auch der kognitive Überbau und mit ihm die Sprache und das Bewusstsein haben ja zunächst vor allem dazu gedient, in der Gruppe effizienter zu funktionieren. Wir sind nach wie vor extreme Gruppentiere, die auf Dauer nur in Bezug zu einer Gruppe überleben können. 
 
Für solche Tiere ist Freiheit eine Herausforderung und Individualität eine Zumutung. Aber sie sind zwingend, wenn die Gruppen deutlich über die 100 Personen hinauswachsen, die sich alle persönlich kennen und alles untereinander regeln können. Dann ist eine gewisse Vereinzelung unausweichlich.

Und die vermutlich konstruktivste Art damit umzugehen ist der Individualismus. Auch wenn der vor allem darin besteht, sich weitere Gruppen zu suchen, denen man sich zugehörig fühlen kann. Und dazu ist die Freiheit nötig, dies auch tun zu dürfen. Unsere persönliche Identität setzt sich geradezu aus den Gruppen zusammen, denen wir freiwillig und unfreiwillig angehört haben oder angehören. (Familie, Freundeskreis, Kreis der Kollegen, Berufsgruppe, Verein, Kultur, Religionsgemeinschaft, Geschlecht, sexuelle Orientierung etc.).

Dass wir uns dabei für individualistischer halten als wir sind und eigentlich immer noch ständig irgendwo dazu gehören wollen, wissen die Extremen am besten. Sie bieten starke Identitäten, die ihre Kraft vor allem aus besonders aggressiver Ausgrenzung Anderer beziehen – und fordern im Gegenzug Einschränkungen der Freiheit. 
 
Sicherlich ist unsere jeweilige kulturelle Prägung so stark, dass es unmöglich ist, je eine Art Kern eines natürlichen Gleichgewichts des Lebens als Teil von Gruppen und als reines Individuum zu finden, zumal der natürlich dynamisch ist und sich weiterentwickelt. 
 
Wir sind definitiv noch nicht am Ende mit den Versuchen, Lebensformen zu finden, die beiden Wünschen ausgewogen Rechnung tragen. Die Globalisierung und die IT-Revolution führen (wieder einmal) zu neuen Dimensionen der Bezugs-Gruppengrößen und der Vereinzelung und Individualisierung und zu neuen Definitionen von Gruppen und Individualität und natürlich zu großen Unsicherheiten.
 
Aber aus diesem Grund zu primitiveren und restriktiveren Gruppenformen zurückzukehren, wird sicher nur kurzfristig gelingen, weil die menschliche Entwicklung klar gegenläufig ist. 

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